La Goutte d’Or
Seit 2005 und bis 2015 mit Christoph Inderwiesen
Als Feldforschungsprojekt 2005 in Paris begonnen angesichts des überwältigend vielfältigen Erscheinungsbildes afrikanischer Kulturen. Fragen nach urbanen Codes und Modetrends, nach kultureller Identität, nach Integration und Assimilation sowie nach transkulturellen Prozessen sind Bestandteile der Arbeit.
Zwei Schwerpunktthemen der fotografischen Recherche umfassen Mädchen- und Frauenfrisuren und Herrenhemden aus westafrikanischen Stoffen sowie eine Sammlung mit Hörprobe afrikanischer Populärmusik.
Ihren Anfang nahm diese zehnjährige Recherche während eines halbjährigen Aufenthaltsstipendiums an der Cité internationale des arts in Paris, einer internationalen Kulturenklave mitten in der französischen Metropole. Der Aufenthalt fiel in die Zeit der massiven Unruhen in den Banlieues, den multikulturell geprägten Vororten von Paris […]
Als Gegenreaktion und zugleich auch als ihre persönliche Solidaritätsbekundung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern suchten die beiden Künstler regelmäßig das Stadtviertel La Goutte d’Or („goldener Tropfen“) im Norden von Paris auf. Es handelt sich um eines der größten Quartiers der in der Diaspora lebenden afrikanischen Einwanderinnen und Einwanderer in Europa.
Aus der zunächst noch tagespolitisch motivierten Einlassung und Auseinandersetzung mit der französischen Einwanderungspolitik, mit Alltagsrassismus und Diskriminierung entwickelten Hofmann und Inderwiesen über Monate hinweg ihre spezifische Form der Feldforschung […]
Während ihres Aufenthalts im 18. Arrondissement verfolgten Susanne Hofmann und Christoph Inderwiesen nicht nur ihre künstlerisch motivierte Feldbeobachtung und sammelten materiale und fotografische Belege. Sie suchten darüber hinaus eine besondere Form kultureller Adaption, die sie durch Aneignen und Inkorporieren der im Quartier existierenden hybriden Kultur umsetzten. […]
Im Sommer 2021 wurde eine Auswahl des umfangreichen Archivs von Susanne Hofmann und Christoph Inderwiesen erneut im Rahmen der Ausstellung CONNECTING CULTURES. Hybride Existenzen. Dezentrale Orte im Kunstverein Neuhausen gezeigt und einer Neubewertung unterzogen.
Susanne Jakob, Ein Langzeitprojekt von Susanne Hofmann und Christoph Inderwiesen, 2005–2015, in: Susanne Hofmann/Christoph Inderwiesen. La Goutte d’Or,Ausstellungskatalog, Stuttgart 2022
Nachträglichkeit der Erinnerung oder: Die Sammlung als „offenes Archiv“
Sie lassen sich ein auf den Gegenstand ihres künstlerischen Interesses, folgen unerwartet auftauchenden Spuren, tauchen ein in die Welten der Anderen, werden durchlässig, überlassen sich dem „goldenen Tropfen“ (goutte d’or) … Im Geschehen dieses Schweifens, einer Art Derive, sind sie mehrfach präsent – als Frau*, als Mann*, als Paar („das Ganze war nur möglich zu zweit“), als Weiße, als Mit-Menschen auch jenseits der Trennlinien, als Besucher_innen, als Mit-Genommene …. Sie schweifen durch die Geschichte(n), die Kulturen, durchkreuzen dabei – zunächst eher intuitiv, dann mehr und mehr bewusst – deren de-/koloniale Kontexte. Es ist kein programmatisches Vorgehen, eher etwas, was im Pariser Straßenbild ins Auge fällt. Es sind die Haarmoden, die Kleidung, die Stoffe, die den Weg weisen – die in Läden, Friseursalons und Open-Air-Konzerte führen – zu Begegnungen mit den Menschen, zum intensiveren Austausch, zur bewussteren Auseinandersetzung.
In der Rück-Erinnerung wird die Qualität des Mit-Gehens, Sich-Aussetzens erneut spürbar, das Sich-Hineinstürzen „wie im Flow“ – aber auch der Schmerz, der sich mit-teilt, angesichts einer Stadt und einer Sprache, die nicht willkommen heißt. […]
Die mimetische Annäherung, die mehr und mehr den eigenen Alltag bestimmt, geht mit einer Befremdung der eigenen Kultur einher – und wird zur künstlerisch-kritischen Intervention […].
Musik-Schubladen und Hemden-Stapel als gestaltete Sammlungen zollen der kulturellen Vielfalt, Kreativität und dem Erfindungsreichtum der Produzentinnen und Produzenten Respekt, ohne deren de-/kolonialen Kontext zu verkennen. Sie reflektieren zugleich die eigenen Versuche der Annäherung und des Verstehens. Und dieses Geschehen lässt sich nicht in Schubladen stecken.
Susanne Maurer, Nachträglichkeit der Erinnerung oder Die Sammlung als „offenes Archiv“, in: Susanne Hofmann/Christoph Inderwiesen. La Goutte d’Or, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2022